Interview mit dem Interviewkönig

1990

Einer ist Journalist geworden...

(Ausschnitt aus dem Programm von Radio Freies Europa)

In unseren Tagen wird die Presse oft kritisiert, daß sie die Situation zu dunkel wiedergibt. Sie gibt keine positiven Antworten auf die auftauchenden Fragen, sondern verfolgt die Philosophie der Rache und spart mit erhebenden Beispielen.
Also soll heute eine optimistische Aussage folgen. Der Mittelpunkt ist ein junger Journalist, aber noch viel mehr der menschliche Wille.

(Vorwort des Moderators.)

Freundinnen und Freunde, ich möchte die nächste Geschichte nicht als Lehrstück verstanden wissen, obwohl sie so klingen wird..., nein, doch nicht..., es ist ein Modell nachzeichenbar, ich habe auch keine didaktische Zielsetzung – ich möchte einfach die Karriere eines jungen Mannes erzählen.

Es wäre sowieso schwer, ihm nachzumachen eine spezielle Gabe ist notwendig, um das zu schaffen, was er geschafft hat..., aber das wird gleich klarer.

Er heißt Ferenc. Eines Tages kam er in die Redaktion, in der ich Chefredakteur war. Er brachte Manuskripte wie zehn andere: Vers, Prosa, Kommentare, Berichte, alles bunt gemischt. Die Schriften bezeugten sein vielversprechendes Talent – aber das war nicht, was mich an ihm am meisten fasziniert hat.

Wir hatten Schwierigkeiten zu kommunizieren. Ich verstand sein abgehacktes Sprechen kaum. Aber irgendwie schafften wir es. Dann kam er auch öfter. Er brachte Berichte, manchmal mit Bravour geschrieben, machmal mit noch mehr Bravour "erzwungene". Er brachte alle zum Reden, egal wie sie vor JournalistInnen flüchten wollten. Aber ich sage nicht die Wahrheit, auch er hat Laszlo Piros, den berüchtigten Innenminister der Fünfziger nicht interviewen können.

Ich habe versucht, Ferenc zu überreden: er soll mehr Kommentar schreiben, oder Gedichte, egal, was wenn er es kann. Aber nein, alles war vergebens. Er hat nur den Bericht gemocht. Ich hatte Angst um ihn, vor Mißerfolg, verletzender Geringschätzung, Mißtrauen. Weil er so erschien.

Wirklich: Wie erschien er? So, wie er ist: ein verletzter Mann. Seine alte Last eine Gehirnblutung als kleines Kind – hat ihn aus der Balance gebracht. Sein Sprechen ist deshalb schwer zu verstehen, seine Bewegung unkoordiniert.

Es fällt ihm schwer zu beweisen, was nach einem kurzen Gespräch offensichtlich ist: daß sein Geist glänzend ist. Viele wollen aber Bildung nicht erkennen: sie bleiben beim Schein, beim ersten Eindruck stehen. Wenige wissen von ihm, daß der die Computerwissenschaft auf einem hohen Niveau betreibt, seine gesellschaftlichen Kenntnisse hervorragend sind, daß er ständig informiert und sehr gebildet ist. Seine Frau – die auch mit Wörtern arbeitet, ihre Fähigkeiten reichen von der Novelle zur Journalistik – ist eine gute Partnerin im Erhalten der geistigen Kondition. Sie schreiben – viel –, erziehen Kinder – zwei kluge – mit viel Liebe. Gute Tage wechseln sich mit schlechteren ab in ihrem Leben. Aber sie tun mit eiserner Konsequenz, was sie tun müssen. Sie sind Menschen, die nicht aufgeben können. Die nicht davonlaufen können. Und vielleicht merken sie nicht, daß es für sie viel schwieriger ist.

Ihre alltäglichen Freuden sind jetzt wieder mehr geworden. Ferenc hat mir geschrieben, im Brief teilt er mir mit, daß er Mitglied des Ungarischen JournalistInnenverbandes ist. Obwohl er weder Redaktionsmitglied ist noch einen "Protektor" hat – wenn Begabung nicht so genannt werden kann. Er hat also geschafft, was ich gelegentlich auch bezweifelt habe: er ist endgültig Journalist geworden. Ich habe es bezweifelt, weil – die Mißerfolge, die erniedrigenden Gesten... der Verlust an Glauben und Geduld. Aber glücklicherweise hielt unser Ferenc Chancenlosigkeit nicht für möglich.

Und er hat es wirklich geschafft. Meine Freude ähnelt nur seiner. Ein Freund von mir, Soziologe, sagt, daß in Ungarn 47.000 Menschen das versuchen, was als chancenlos beurteilt wurde. So viele sind es, die trotz ihrer Verletzungen etwas tun, etwas tun wollen, was nach allgemeinem Denken nur für Gesunde geeignet ist... und genau deswegen werden sie auch gesund. Dem Diktat der Überzeugung folgend, so wie sie ihre Begabungen entfalten können.

Der Fall von Ferenc könnte also, wenn wir die 47 Tausend betrachten, typisch erscheinen. Das ist es aber doch nicht, und wirklich nicht als Muster geeignet. Zumindest der konkrete Fall. Alles andere schon: auf der Grundlage des Vorbildes. Ich stelle mir vor, wie Ferenc – jetzt mit Journalistenausweis – sich gestärkt nach ungewöhnlichen Reportsubjekten umsieht. Die nur mit seiner besonderen Gabe zu interviewen sind. Ich denke nicht an das sichtbare, sondern an das, was man nicht sieht: die Ausdauer, den Willen.

Ein Mann ist in Ungarn Journalist geworden. Sein Name ist Ferenc Meszaros, sein besonderes Schicksal wurde euch von Balazs Varkonyi aus Budapest erzählt.

(Aus der Sendung "Zene-Szó" von Radio Freies Europa, 14. und 15. Oktober 1990; in Druck erschienen in Szeged, in der Tageszeitung Délvilág (im Vorgänger der "Reggeli Délvilág", die dem Konkurrenzkampf zum Opfer fiel, nicht in der heute existierenden, ähnlich genannten, in ausländischem Besitz befindlichen Zeitung!) am 25. Oktober 1990 sowie in der Monatszeitung "Die Hörgeschädigten" im Jänner 1992.)



1992

Interview mit dem Interviewkönig

Feri, der "mitarbeiter..." - Der Redakteur wähnte ihn eine Flüchtling

Ferenc Mészáros ist auch vom Gott zum Reporter der "Külváros" ("Peripherie") geschaffen. Nur, davon wusste lange Zeit niemand. Feris Geschichte ist natürlich nicht mit uns begonnen, wir drängen uns erst jetzt mitten drin ins Bild. Dass er zu uns gehört, und wir zu ihm, hat sich im Winter vergangenen Jahres herausgestellt. Als an einem kalten Winterabend am Tür unserer Privatwohnung-Redaktion geläutet wurde, fand ich mich eninem dünnen jungen Mann besonderer Körperhaltung in Wintermantel mit Hut gegenüber. Vor Treppensteigen oder der Eile kam er kaum zu Wort: Die Laute brachen aus seiner Lunge mit unverständlicher Artikulation hervor.

Das Weihnachtsfest stand uns bevor, und es hatten sich die Flüchtlinge damals vermehrt, die in Unkenntnis unserer Sprache nebst mit Wünschen beschrifteten Pappendeckeln von Haus zu Haus wanderten. Ich war schon in Begriff, meine Geldbörse zu holen, da ich meinte, dass ein auf meine Gabe angewiesener Gast eingetroffen sei. Da erblickte ich aber in der Hand des in der Türöffnung stehenden Mannes einne Presseausweis mit seinem bartigen, bebrillten Abbild darauf. Nun bat ich den Herrn Kollegen herein, als es sich dann herausstellte, dass er auch einen Artikel für unsere Zeitung mitgebracht hatte.

Als er sich aus seiner besonderen Körperhaltung in Bewegung setzte, merkte ich gleich, dass sein Bewegungsablauf nicht so regelmässig ist, wie der von anderen Erdenbürgern. Seine gebrochene Rede und mit grosser Anstrengung hervorgebrachten Worte konnte ich anfangs kaum verstehen. Wenn ich etwas ihnen mitteilen wollte, musste ich wiederum fast schreien, damit er es hören konnte. Nach mehrmaligen Begegnungen hatte sich das Bild zusammengesetzt, bis ich das wahre Antlitz eines Mannes mit besonderer Willenskraft kennenlernte. Die Mitteilung und die Weiterleitung der Gedanken, das Wort und die Schrift, sind für ihn und seinesgleichen die schwerste Herausforderung. Trotz alledem erzielt Ferenc - die Chancenlosigkeit und die Vorurteile überwindend - seine Erfolge Tag für Tag auf kommunikativem Gebiet, in der Journalistik. Politiker und berühmte Menschen bringt er immer wieder zum Sprechnen, auch Leute, die sich einfachen "Skribenten" sonst nicht eröffnen.

Feri Mészáros' Schicksal hat einen gnadenlosen Lebensanfang produziert: Als Frühgeborener ist er nach sieben Monaten mit einer Gehirnblutung auf die Welt gekommen. Mit dem rechten Ohr hört er kaum, mit dem linken mittelmässig. Nach einem anfang in der Behindertenschule absolvierte er neben Erwerbstätigkeit die Grundschule und machte dann im Abendkurs einer Handelsschule die Reifeprüfung. Nun ist er externer Mitarbeiter der Reggeli Délvilág, publiziert häufig in der Dél-Kelet, der Vasárnapi Hírek und dem Kurier, neuerding dann im Európa. Seine Beiträge - bis jetzt sind an die 300 erschienen, meist Interviews - werden oft auch vom Tallózó übernommen. Er ist 37 Jahre alt und ab März interner Mitarbeiter der Külváros.


- Wie bist Du zu diesem Beruf gekommen?

- Auf Ermunterung meiner Frau hin. Fast seit dem Tag unserer ersten Begegnung hat sie mich bedrängt: "Schreib doch!" Zwei bis drei Jahre lang habe ich sie abgewinkt, es sei doch nichts daran, wie ich konzipiere, und ich könne nicht einmal mit zehn Fingern tippen. Dieses letztere Problem int Ende 1985 durch den Kauf eines Computers Commodore Plus/4 gelöst worden, wodurch ich die Vorteile eines Textgestaltungprogramms kennengelernt habe. So war es schon spielerisch leicht, mich zum Schreiben und stufenweise zur Journalistik zu wenden. György Pogány, der damalige Chefredakteur der Commodore-Zeitung, hat meine ersten Artikel veröffentlicht. Regelmässig und fast gleichzeitig mit den grossen politischen Umwandlungen habe ich ab Mai 1989 en der Déli Napló von Balázs Várkonyi angefangen zu publizieren.

Diese beiden Wochenzeitungen dürfte ich bald "ausgewachsen" haben, denn meine Beiträge sind in zwei Monaten auch in der Bezirkstageszeitung erschienen. Ende August hat dann István Nikolényi, dem ich bis heute das meiste zu verdanken habe, meinen eifrigen Fleiss bereits mit einem Berichterstatter-Ausweis "legalisiert". Im September 1989 ist die 21. Publikation meiner Laufbahn (Interview mit László Rajk d.J.) in der Nachlesezeitschrift Tallózó erschienen. Nach einem Jahr hat man mich dann aufgrund meiner bis dahin geschriebenen Beiträge ohne die "vorgeschriebenen" fachlichen Abschlussprüfungen in den Journalistenverband aufgenommen.

- Erzähl mir von deinem Elternhaus, von deiner Mutter, deinem Vater, von deiner damaligen Welt. Wozu bestimmten dich deine Eltern, ob sie deine Zukunft planten? Und konntest du dir damals vorstellen, eine selbständige Existenz zu schaffen, eine Familie zu gründen?

- Mit meinen Eltern und meinem um sieben Jahre jüngeren Bruder wohnten wir in einem Familienhaus mit garten im zweiten Bezirk Budapests. Für längere oder kürzere Zeit hatten wir immer die verschiedenste Tiere. Hund immer, Katze meistens. Federvieh, Taube, Papagei, Goldhamster, Schwarzwildferkel und Schildkröte bevölkern meine Kindheitserinnerungen. Über meine Zukunft enststanden keine besondere Pläne. Wenn mal die Rede davon war, hielt meine Mutter eine ähnliche behinderte Frau für mich für vorstellbar. Über meine Arbeit dachten sie, sie solle eine Heimarbeit sin. Nach der Behindertenschule blieb ich drei Jahre zu Hause. Vielleicht wäre ich noch immer dabei, wenn uns ein Pädagogenbekannter der Familie nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, dass ein Grundschul-Abendkurs für Erwachsene in einem Betrieb in der Nähe anlaufen werde. (Die Behindertenschule entsprach nicht dem Grundschulabschluss.) So absolvierte ich die fehlende achte Grundschulklasse und meldete mich zum Weiterlernen in einer Handelsschule. Nach dem Motto "Probieren darf er" nahm man mich auf. In den ersten zwei Jahren machte meine Mutter für mich meine zum vorgeschriebenen Arbeitsverhältnis notwendigen Heimarbeit, während ich lernte. Für mich wrede es immer langweiliger zu Hause, so sah ich mich nach einer richtigen Arbeit um. Das dritte Jahr begann ich schon als angelernter Arbeiter des Forschungsinstitut für Arbeitsunfallverhütung in täglich vier Stunden. Um neun Uhr begann meine Arbeit, und jeden zweiten Tag ging ich abends von 5 bis 1/2 10 Uhr in die Schule. Ich war froh über das mittleren Ergebnis meiner Reifeprüfung, wurde zum Archivar befördert und kam in die Sekretäriat des Instituts. Da habe ich dann nach anderthalb Jahren das Heiratsinserat meiner späteren Frau gelesen.

- Bist Du so aus Budapest nach Szeged gekommen?

- Ja, weil meine Frau in Ruzsa unweit von Szeged wohnte. Ihre Mutter hatte bereits zur Zeit unseres Kennenlernens gekränkelt, so entschieden wir uns, für den Preis ihres Hauses im Dorf eine Wohnung in Szeged zu kaufen.

- Wie hast Du als Kind und Schüler dein Anderssein erlebt?

- Bevor ich in die sogenannte Vorbereitungsklasse der Behindertenschule kam, hatte ich nur im engen Familienkreis gelebt. So halte ich es hinterher auch für besser, dass mich meine Eltern die Normalschule nicht einmal probieren liessen. Damals waren meine Bewegungen und Aussprache noch schlimmer, und es wäre auch seelisch erschütternder gewesen, die Diskriminierung zu spüren. Die Mittelschule begann ich von vornherein mit dem Kopf eines Einundzwanzigjährigen aber mit der Seelenkraft eines Fünfzehnjährigen. In der Erwachsenen-Abendschule ist die Abbröckelung anfangs sehr hoch: die mich in der Regel ausgelacht und meinen eigenartigen Zustand nicht toleriert hatten, blieben nun eben diese Mitschüler vom Kurs als erste aus... Auch in dieser Schule fand ich diejenigen, die mir, wenn es notwendig war, beim Lernen halfen.

- Und wie hast du die Redaktion auf deine "schlechte" Bewegung und Aussprache im Erwachsenenalter vertragen?

- Erwachsenenalter? Was ist das? Für mich gibt es nur Lebensalter. Ich kenne Teenager, die sich als Fünfzigjährige benehmen, und umgekehrt, was den Begriff "Erwachsenenalter" sinnlos macht. Wenn Du aber unbedingt nach meinem reiferen Lebensalter fragst, hat begonnen, als wir mit meiner Frau unsere erste eigene Wohnung bezogen. Das war von solcher Bedeutung für mich wie die politische Umwandlung der letzten Jahre. Sowohl seelisch ung geistig als auch physisch. Die seitdem vergangenen 10 Jahren sind eine Zeit, die mir mehr Erlebnis geschenkt hat, als die vorangegangenen 27! Worin ich kein Erwachsener geworden bin, ist die Aufnahme der begaffenden und auslachenden Blicke. Daran habe ich mich nicht gewöhnen können. Und meine Erfahrungen in Deutschland bestätigen es: Nicht die hiesige Beurteilung ist die europäische.

- Wie ist deine materielle Lage? Brauchst du irgendein spezielles Hilfsmittel in deiner Wohnung?

- Zwar haben wir finanziell nur selten über dem Existenzminimum gelegen, trotzdem ist unsere Lage nicht dit schlimmste. Wie leben in einer Anderthalbzimmer-Fertigteilwohnung, und wenn ich über Obdachlosen höre, habe ich kein Recht, mich zu beklagen. Die Türschwellen habe ich schon oft verdammt, wenn aber die Gesellschaft einmal der Meinung ist, dass alle Menschen physisch gleich sind, ist nichts zu tun. Wir könnten einen IBM- (oder IBM-kompatible) AT-Computer und einen besseren Printer gebrauchen, durch die nicht nur ich auf eine höhere Stufe der Textgestaltung in meinem Beruf gelangen könnte, sondern - bei einer eventuellen Arbeitslosigkeit - wir beiden bessere Chancen zur Neubeginn hätten.

- Sag mal etwas über deine Ehe, deine beiden schönen Kinder und deine Frau, was auch die Leser interessieren kann.

- Unsere Kinder haben bisher wegen unseres niedrigeren Einkommens, Gott sei Dank, noch nie ernsthaft Not gelitten, dafür sind sie sowohl seelisch als auch physisch viel freier als manche ihrer Kameraden aus wohlhabenderen Familien. Dabei muss ich bemerken, weder die vorherige noch die jetzige politische Macht billigt es, dass wir in einer solchen Situation zwei gesunde Kinder erziehen. Sobald die Kinderbeihilfe für meine Frau Anfang 1989 ausgelaufen war, entzog man uns gleich auch das Erziehungsgeld... Die neue Regierung hat die Familienunterstützung wiederum für diejenigen erhöht, die ein behindertes Kind erziehen. Als ob es eine Situation wie die unsere gar nicht gäbe, das heisst, dass das Kind gesund ist und ein Elternteil nicht. Ich habe ein Attest darüber, dass ich schwerhörig bin. Bei Reparatur meines Hörgerätes wollte ich einmal Sozialhilfe beantragen. Man schrieb mir zurück, dazu müsse erst eine Durchleuchtung meiner sozialen und finanziellen Verhältnisse erfolgen, obwohl es sich nur um eine einmalige Gelegenheitshilfe handelte... Heute sitzen auf den Posten der Sozialämter dieselben, die damals... Sie werde ich nie mehr um etwas bitten!

- Wie nehmen deine eigenen Kinder deine Anderssein, nachdem sie schon haben erfahren können, dass die Väter andrer Kinder nicht so sind, wie du?

- Sie haben von vornherein keine traditionelle Erziehung bekommen, sie sind gar nicht in den Kindergarten gegangen. Das neunjährige geht erst jetzt, in der zweiten Hälfte der fünften Klasse, seit Februar überhaupt in die Schule. (Es ist seinen Altersgenossen um ein Jahr voraus.) Bisher ist sie Privatschüler gewesen. Meine Frau ist ursprünglich Pädagoge, so hat ausschliesslich sie es unterrichtet. Das jüngere ist sechs jahre alt, es ist anders veranlagt. Wir möchten, dass es von Anfang an in die Schule geht. Im September kommt es in die erste Klasse. Ich hoffe nur, dass ihnen die "Krüppelei" ihres Vaters kein Leid antun wird. Es ist eine Art Genugtuung für mich, dass sie bereits gesund sehen: Begegnet ihnen ein Schisksalsgenosse vor mir, begaffen und lachen sie ihn im Gegensatz zu den Durchschnittskinder nicht aus.

- Bist du bereits wegen deines unsicheren Ganges und deiner schwer verständlichen Rede in intoleranter Umgebung in irgendeine heikle Situation geraten? Kannst du die unerwarteten Angriffe abwehren? Viele sich nicht zurechtfindende Behinderte werden vielleicht gerade infolge von solchen äusseren Effekten - geleidigende Abfertigung, verletzendes Misstrauen - erbitterte Welt - und Menschen - hasser. Deshalb die Frage.

- Na, siehst Du, deswegen wollte ich mir einen seriösen Ausweis erwerben, denn man schenkte mir bis dahin, was meinen Beruf anbelangt, oft keinen Glauben. Bereits Chefredakteur István Nikolényi half mir viel, als er mir im August 1989 - nach einem Monat Bekanntschaft - einen Berichterstatter-Ausweis gab. Mein siebzigjähriger deutscher Schicksalsgenosse und Kollege, der ein Kriegsversehrter ist, beteuerte mir während meines Aufenthaltes in Bremen immer wieder, welche unglaubliche Leistung es doch sei, dass ich mich trotz meiner schlechten Physischen Kondition so emporgearbeitet hätte. Vergebens erwiderte ich, er übertreibe, das hielt er nur für Bescheidenheit. Besondere Angriffe haben mich nicht getroffen, doch befürchte ich, dass meine Engagement für die Demokratie nicht jedem gefällt, obwohl ich damals auch die alte Macht nicht verschonte. Was mich eher ärgert: Manchmal muss ich mehrstündige Vorträge "erleiden", um am Ende ein kurzes Interview machen zu können, und schliesslich gibt mir der Betroffene doch kein Interview, obwohl er anderen gibt oder zu sonstigem Geplauder dennoch Zeit hat.

- Ich habe dich im Gegensatz zu manchen schicksalsgeplagten, in sich gekehrten Behinderten als einen gemütlichen Menschen kennengelernt. Bist du zufrieden mit deinem Leben? Bist du glücklich, hast du erreicht, was du gewollt hast, oder hast du noch irgendeinen geheimen Wunsch?

- Mein beruflicher Ehrgeiz ist unstillbar. Ich würde alles gerne erlernen, was mit dem Zeitungsmachen zusammenhängt. Ich hoffe insgeheim, dass einmal die Zeit kommen wird, wo ich mich mit jedem interessanten Menschen zu einem ungebundenen Gespräch werde hinsetzen können, was heute noch selten möglich ist. Für den Journalisten wäre es wiederum schön, ausschliesslich den Menschen ohne Macht und Rang kennenzulernen.

- Was ist die wichtigste Lehre deiner bisherigen Laufbahn?

- Der politische Systemwechsel selbst. Er hat die Menschen unglaublich durcheinandergebracht. Ich halte es für ein grosses Glück, dass mein Gesundheitszustand für das vergangene Regime einen Ausschliessungsgrund für die richtige Berufsausübung darstellte und meine regelmässige journalistische Tätigkeit parallel zu den ernsthaften Umwandlungen begonnen hat. Debei sehe ich mit Bestürzung, wie viele Menschen aus ihrer alten Haut schlüpfen und wie viele anständige Menschen unverschuldet um ihre Arbeit kommen. Diese letzteren sind meist Opfer einer schlechten Wirtschaftsführung, doch ihre Chefs geniessen in der Regel eine hohe Rente oder haben sich schon auf die Führungsposten der neuentstandenen markwirtschaftlichen Unternehmen herübergerettet.

- Was möchtest du auf der Journalistenlaufbahn beruflich erreichen?

- Was ich möchte, estspricht, glaube ich, dem Interesse der Allgemeinheit, nämlich, dass es langfristig eine Demokratie entsteht, wie ich sie in Deutschland erleben konnte. Es soll sich ein gesunder Wettkampf herausbilden, bei dem nicht die gegenseitige Beschuldigung und Beschimpfung, sondern die Qualitätsarbeit und die Leistung dominieren. Er soll mit dem Herumwühlen im Privatleben aufgehört, aber auch eine Situation erreicht werden, in der die Enthüller unseriösen Vorteil- und Vermögenserwerbs keine Vergeltung zu befürchten brauchen. Wenn das verwirklicht wird, können wir mit meinen Kollegen sagen, dass wir nicht vergebens gearbeitet haben.

Aufgezeichnet von R.I.A.
Übersetzt von Zsolt Szitár
Ins reine getippt von Emese Nagy